2 Wochen nach dem Erdbeben

Reisebericht von Claire und Frank Höfer

Am 29. Januar, 17 Tage nach dem Erdbeben, landeten wir mit einem von Airbus ermöglichten Hilfsflug in Port-au-Prince. (Den Airbus-Leuten sei hier großer Dank gesagt). Mit uns kamen zwei Ärzte, einer davon Tropenmediziner, ein Medizinstudent und eine sprachkundige Hilfskraft.

Bei unserer Ankunft am Abend ist die Stadt sehr still, unheimlich still, fast gespenstisch, vor allem, wenn man Port-au-Prince und das laute Treiben seiner Strassen kennt. Es ist auch sehr dunkel. Nirgends gibt es Strom. Nur der Vollmond beleuchtet die Strassen, die Ruinen und die Menschen, die im Freien liegen, um kleine Feuer hocken oder umherirren.

Über 70% der Häuser sind zerstört, manche vollkommen eingestürzt, andere hängen von großen Rissen durchzogen total schief und stellen eine Bedrohung dar; es gibt Schulen, unter denen Hunderte von Schülern verschüttet liegen, voll belegte Krankenhäuser, die wie ein Kartenhaus zusammenfielen und alles und alle unter sich begruben, Kirchen, die auf Scharen von Gläubigen und Ordensleuten einstürzten…

Jeder in Port-au-Prince hat irgendeinen lieben Menschen durch das Erdbeben verloren. Bei den meisten sind es mehrere oder viele. Marie-Josée trauert um das Heim von Trichet und seine Toten und  um  viele  andere: Freunde,  Mitarbeiter, Bekannte, Schüler… Wer überlebt hat,  hat oft alles verloren, lebt auf der Straße, im Auto, im Zelt. Die Verwüstung erinnert an Bilder nach dem zweiten Weltkrieg. Nur dass hier alles in 35 Sekunden passierte!

Nothilfe: Zwei Tage nach unserer Ankunft ist die erste Zelt-Klinik der „Haiti Kinder Hilfe“ im Garten einer ehemaligen Kultusministerin Haitis funktionsfähig. Die Ärzte, der Medizinstudent und die Helferin nehmen  mit  einigen  haitianischen  Hilfen  die  Arbeit auf.  Schwierigkeiten  müssen  überwunden werden: gute Dolmetscher  sind rar; Trinkwasser  wird zum Problem; erst nach Tagen können Elektrokabel gekauft werden, damit ein Ventilator das Behandlungszelt ein wenig kühlen kann; die Ärzte vergehen sonst vor Hitze. Pro Tag kommen circa 60 Patienten. Allerdings kommen zu  diesem  Standort  nicht  die  Ärmsten der Armen, so dass Marie-Josée drei weitere Zelt-Kliniken in Stadtteilen, in denen die Not am größten ist, organisiert. Und etwas später kommen noch 3 dazu. „Action Medeor“ hat viele Medikamente und medizinisches Gerät mit dem Airbus  geschickt.  Wir  holen  eine  weitere Sendung  vom  Flughafen  ab,  sortieren  die  Pakete, so dass die Kliniken sich gut versorgen können. Am Zoll geht alles glatt. Sogar die Zollbeamten scheinen begriffen zu haben, dass nicht die Zeit für Schmiergeld-Erwartungen ist.

Nothilfe: Marie-Josée verteilt Essenspakete. Sie hat in der Dominikanischen Republik viel Essen eingekauft. Und sie stellt Kleiderbündel zusammen, gibt sie Frauen aus den Slums, damit diese sie verkaufen und sich ein Mini-Einkommen erwirtschaften können. Überall in der Stadt kommen langsam kleine Warenstände wieder in Gang.

Nothilfe: Von  den 3 Heimen  ist eines  eingestürzt. Die verletzten Kinder, die ausserhalb von Port-au-Prince in einem Krankenhaus lagen, sollten entlassen werden. Als man sie abholte, liefen drei weg; sie wollten auf keinen Fall zurück nach Port-au-Prince und in ein Haus. Die anderen drei wären auch weggelaufen, wenn sie mit ihren Verletzungen gekonnt hätten. So wurden erst diese und 2 Tage später die anderen gebracht. Alle haben um die 20 Stunden unter den Trümmern ihres Heims gelegen. Einer von ihnen wurde auf den Heimleiter geschleudert, der unter ihm zu liegen kam. Nach einem heftigen Todeskampf, bei dem er den Jungen so umklammerte, dass dieser zu ersticken drohte, starb der Mann. Der  kleine  Bruder  des  Jungen konnte  nicht geborgen werden. 2 andere Jungs  wurden bewusstlos geborgen und für tot gehalten. Sie verbrachten Stunden zwischen den Leichen, zu denen man sie gelegt hatte. Claire hat  sich viel um diese stark traumatisierten Jungs gekümmert,  sie  am Abend  ihrer Ankunft  und  danach auch oft  gehalten,  beruhigt,  gestreichelt, mit  ihnen gemalt, geredet, gespielt und gebastelt. Sie schliefen draußen. Allmählich trauten sie sich wieder ins Haus und konnten sogar nach einer Weile wieder lachen.

Nothilfe: Marie-Josée beauftragt einige Lehrer damit, herauszubekommen, wie es um die Schüler ihrer Schulen und deren Eltern steht. Die Lehrer, die sie ausfindig machen konnte, werden  mit  Listen auf die Suche geschickt: Lebt der Schüler noch? Die Geschwister? Die Eltern? Hat die Familie noch ein Haus? In  welchem Zustand? Es ist sehr schwierig. Die wenigsten sind an ihrer alten Adresse zu finden. Manche sind aufs Land geflüchtet, andere  leben  in Notunterkünften oder Notlagern, wie man sie überall sieht: auf allen freien Flächen, an den Straßenrändern, auf den Bürgersteigen, oft sogar auf der Fahrbahn – in die Erde gerammte Holzstecken, dazwischen  Fetzen  aus  Plastik oder Stoff.  Es wird lange dauern, bis man über alle ca. 2000 Schüler Bescheid weiß!

Nothilfe: Die Regenzeit droht. Es bräuchte viel mehr Zelte und Planen. Eines Abends regnet es. Die Kinder in Sapotille haben ausreichend Zutrauen gefasst, um mit ihren Liegematten und Decken unter ein Vordach am Haus zu kommen. Zum Glück regnet es nur kurz. Die „Haiti Kinder Hilfe“ verteilt – wie alle anderen NGOs auch – Zelte und Planen. Das ist kurz vor der Regenzeit Priorität Nr. 1.

Schulen und Heime: 3 Schulen für ca. 2000 Schüler und 3 Heime für ca. 200 Kinder betreibt die Haiti Kinder Hilfe in Port-au-Prince. Wir wollen den  Zustand  der Gebäude sehen und  Fotos  für  die  deutschen Freunde der „Haiti Kinder Hilfe“ machen.

Die Schule BethEL sieht unversehrt aus – keine Risse. In der deutschen Botschaft  treffen wir einen Statiker. Eine Zeit später prüft er, ob der Schulbetrieb hier wieder aufgenommen werden kann. Seiner Meinung nach sind lediglich kleine Renovierungsarbeiten  empfehlenswert.

Das Schulgebäude von „Sainte Catherine et Saint Nicolas“ sieht von weitem unversehrt aus. Bei näherem Blick erweisen sich die Mauern des Erdgeschosses jedoch als stark beschädigt. Das Gebäude ist baufällig, obwohl der erste Stock praktisch ohne Risse ist.

Das Gebäude der weiterführenden Schule CFI ist völlig zerstört. Dank eines glücklichen Zufalls waren keine Schüler da, als das Erdbeben losbrach. Durch ein Versehen gab es an dem Tag kein Essen; die Schüler waren ziemlich unleidlich. Der Schulleiter hat sie früher heimgeschickt. Eine Viertelstunde später brach das Gebäude in sich zusammen. (Viele Menschen erzählten uns, dass derartige Erfahrungen alle Todesangst vertrieben hätten; es sei zu deutlich gewesen, dass allein Gott darüber verfüge, wann die Stunde zu sterben gekommen sei).

Marie-Josée will möglichst schnell den Schulbetrieb –  zunächst in Zelten – wieder aufnehmen. Dem steht die staatliche Verfügung entgegen, die besagt, dass alle Schulen der Stadt gleichzeitig wieder anfangen sollen!

Außerdem sind die Grundstücke bei den Schulen nicht groß – zu wenig Platz für Zelte. Sie würde gern ein größeres Grundstück kaufen. Seltsamerweise sind die Grundstückspreise völlig überhöht.

Zum Heim von Sapotille (Heim der Mädchen) brauchen  wir  nicht  zu  fahren; da  wohnen wir. Sapotille ist unversehrt. Allerdings ist das mehrstöckige Nachbarhaus eingestürzt. Die Trümmer haben einen Teil der Gartenmauer des Heims und ein kleines Häuschen an der Mauer zerstört. Ein Bachbett an der Grundstücksgrenze ist voll Schutt. Bei  starken Regenfällen  könnte Wasser in das  Grundstück von  Sapotille fließen und das Erdgeschoß  überfluten.

Das Heim von Santo (Heim der Kleinen) ist  unversehrt. Nur Teile der Gartenmauer sind eingestürzt. Arbeiter ersetzen die kaputte Mauer durch Eisenstreben und Wellblechplatten. Solche Schutzzäune sind absolut notwendig. Eine belgische Freundesgruppe der „Haiti Kinder Hilfe“ soll bald kommen, um einige Renovierungsarbeiten im Haus von Santo zu erledigen. Die Kinder schlafen aus Angst vor weiteren Erdstößen in Zelten im Garten. Im Haus lagern vorläufig  die  Medikamente von  Medeor. Eventuell sollen einige  Fertighäuschen gebaut werden, um ein festes Medikamentenlager einzurichten.

Das Heim „Trichet“ (Heim der Jungs) zu sehen schmerzt am meisten. Hier wurden einige Kinder verschüttet und konnten nicht gerettet werden. 6 davon  liegen noch unter den Trümmern. Andere konnten geborgen werden. Der Verwesungsgeruch ist unerträglich. In Santo organisiert Marie-Josée eine  Feier  für die  Toten  von  Trichet. Es wird gesungen und gebetet, und für jeden gestorbenen Jungen werden einige Worte gesagt und eine Kerze wird  aufgestellt. Claire und  Frank, Roland, der Kinderarzt, und Claudia, die Helferin, sitzen mit allen zusammen im Hof , über uns den tropischen Sternenhimmel. Wir  hören  den  Gesängen und Gebeten zu; auf unserem Schoß weinende Kinder. „RTL“ und „Action Medeor“ wollen mit anderen Firmen den Neubau von Trichet finanzieren.

Wir bauen einige der Solarkocher zusammen, die „EG-Solar“ geschenkt hat, und bringen diese Arbeit ein paar Jugendlichen bei. In  Santo  wird dann sofort der Reis darauf zubereitet und das Wasser zum Spülen erhitzt. Bald wird den Frauen beigebracht werden, wie sie auf den für sie so ungewöhnlichen Geräten kochen können. Dann soll versucht werden, diese in einem Land, das an der Herstellung von Holzkohle immer mehr verödet, so wichtigen Geräte „unters Volk zu bringen“

Jeden Freitag fahren Claire und  Frank zur deutschen Botschaft. Dort treffen sich deutsche Hilfsorganisationen und tauschen Erfahrungen aus. Das kostet Zeit, ist aber wertvoll.  Es ist ermutigend zu sehen, was an Hilfe geleistet wird .

Grundsätzliche Überlegungen: Vieles muss neu aufgebaut werden und so drängen sich Fragen auf. Ob man die Schulen und Heime in Zukunft vielleicht anders gestalten sollte? Z.B sind die Fahrtwege zwischen den Heimen und Schulen bisher lang. Es läge nahe, die Schulen zusammenzulegen. Soll man Trichet auf dem alten Grundstück am steilen Hang wieder aufbauen?… Uns scheint, dass die Haiti Kinder Hilfe Zeit zum Nachdenken braucht. Die wird sie wahrscheinlich schon dadurch haben, dass in Port-au-Prince im Moment Bauverbot ist: es sollen Baunormen eingeführt werden. Man wird in Zukunft auch in Haiti eine Baugenehmigung brauchen!

Nach 3 Wochen steigen wir in ein Flugzeug der UNO, das jeden Tag zwischen Port-au-Prince und Santo Domingo verkehrt und Mitglieder von Hilfsorganisationen umsonst mitnimmt. Der Abschied von Marie-Josée, den Kindern und all jenen, die mitgeholfen haben, fällt allen schwer. Aber wir müssen zurück.

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