Reisebericht von Claire und Frank Höfer vom Januar 2013

Als wir am 11. Januar von unserem südfranzösischen Haus in den Bergen der Provence Richtung Paris aufbrechen, muss Frank die Ketten montieren, denn nachts hat es 30 cm geschneit. Es ist kalt. Zwei Tage später steigen wir in Port-au-Prince aus dem Flugzeug. 30 Grad, strahlend blauer Himmel. Über der Stadt der übliche Smog. Das Ehepaar Judie und Gerrit empfangen uns in ihrem Guesthouse mit ihrer immer gleichen Freundlichkeit.

Ziel unserer Reise war, die Organisationsstruktur zu verbessern. Zunächst mussten wir in den Heimen und mit den haitianischen Mitarbeitern sehen, ob sich nicht einiges mit weniger Aufwand würde organisieren lassen. Wir empfanden es als Fügung, dass ein uns bis dahin unbekannter Haitianer, Alain Castera, von sich aus geschrieben hatte. Er war durch Jürgen und Luzia Schmidt auf uns aufmerksam geworden und wollte uns gerne kennenlernen, um zu sehen, ob wir Arbeit für ihn hätten. Wir treffen ihn in Port-au-Prince: Ein junger, schwungvoll wirkender und sehr gut ausgebildeter Haitianer, der fließend deutsch spricht, natürlich französisch und kreolisch kann (außerdem englisch und spanisch), acht Jahre in Deutschland gelebt und dort Betriebswirtschaft studiert und sich mit Fragen der Pädagogik auseinandergesetzt hat. Wir verstehen uns sofort gut und haben den Eindruck, dass das der Mann ist, den wir brauchen.

So arbeiten wir nun also in Haiti mit einem zu 100 Prozent haitianischen Team, das von Alain Castera geleitet wird. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die deutsche Seite des Vereins kann so noch eindeutiger die Zielsetzung realisieren, dass wir Haitianern helfen wollen sich selbst helfen zu können. Der Kontakt zum Vorstand der HKH kann in deutscher Sprache erfolgen. Castera ist die ganze Zeit in Haiti, um dort in Zusammenarbeit mit „Miss Phebée“ und „Maître Claude“, den zwei Heimleitern und dem Hilfspersonal (Köchinnen, dem Fahrer, dem Türhüter im Mädchenheim) alles Organisatorische und alles pädagogisch Notwendige zu tun. Er wird sicher auch dann und wann nach Deutschland kommen, um aus erster Hand über die Arbeit des Vereins und über die Situation in Haiti zu berichten. Seine pädagogischen Vorstellungen sind eine gesunde Mischung aus haitianischer Tradition und europäischer Erfahrung. Wir sind überzeugt, dass wir eine Lösung gefunden haben, die eine noch bessere erzieherische Qualität mit sich bringen und eine große Arbeitserleichterung bedeuten wird.

 

Einige unserer JugendlichenEs gibt Kleinigkeiten zu regeln: Das Mädchenheim braucht neue Bänke, einige Reparaturen an der Elektrik sind notwendig. Auch in diesen Dingen wird Castera durch beständige Anwesenheit nach und nach andere Gewohnheiten einführen können. Keine leichte Aufgabe. Während wir das Nötige tun, um die Reparaturen in Gang zu setzen, kommt Milhomme zur Türe herein. Der Junge hat Leberzirrhose, weil er als kleines Kind wohl eine ganze Weile lang fast nur mit Erdnüssen ernährt worden ist. Im Sommer wird er voraussichtlich nach Deutschland kommen können, damit der Zustand seiner Leber genauer untersucht werden kann, was in Haiti nicht möglich ist. Die Ärztin Dr. Christa Kitz ist schon dabei, alles zu organisieren. Milhomme wird bei ihr wohnen können. Alles Weitere hängt vom Ergebnis der Untersuchungen ab. Aber Milhomme ist guter Dinge.

 

Das neue HausNächste „Baustelle“: Wir müssen ein neues Haus für das Heim der Jungs finden. Mit einer Maklerin fahren wir durch die Stadt und schauen mehrere Häuser an: die einen zu groß, die anderen zu teuer. Nichts entspricht uns so recht, als uns Berthony, der Fahrer, der für die Haiti Kinder Hilfe arbeitet, am nächsten Morgen berichtet, dass er ein Haus gesehen habe, das in einem günstigen Viertel von Port-au-Prince liege und zu verkaufen sei. Wir fahren hin. Der Neffe des Besitzers erwartet uns. Das Haus  gefällt uns auf den ersten Blick: es ist hell, ist ausreichend groß für unsere zwanzig Jungs; die Schule von Maître Audilon, den wir schon seit einiger Zeit kennen, ist zu Fuß erreichbar; es hat einen Garten mit Mango- und Mandelbaum! Das Stadtwasser fließt anscheinend auch regelmäßig, um die unterirdische Zisterne zu füllen. Alain wird sich um die Verkaufsmodalitäten kümmern und alles organisieren. Wir träumen schon: Hulda, die von der HKH unterstützte Agronomiestudentin, verspricht uns, den Jungs beizubringen, wie sie den Garten bepflanzen, Gemüse anbauen, eine Bougainvillea-Hecke anpflanzen können.

Der Besuch an einem der nächsten Tage beim haitianischen Rechtsanwalt der HKH und bei einem Notar legt die Formalitäten fest, die für den Hauskauf erledigt werden müssen, aber auch weitere, von der Regierung seit neuestem für die Registrierung geforderte Papiere werden beglaubigt. All das kostet unendliche Stunden. Allein bei der Notarin warten wir drei volle Stunden, bis sie endlich auftaucht. Claire hat im Wartesaal ihren Computer aufgebaut, um die Zeit nicht nur mit Warten zuzubringen. Ich habe meine Notizen sortiert. Wir hatten das Gefühl, den Wartesaal zu unserem Büro gemacht zu haben.

Nächste Baustelle: die weitere Mitarbeit des Soziologieprofessors und Psychologen Herold Toussaint. Wir fahren zu ihm nach Hause. Toussaint diskutiert seit einem Jahr mit den Jugendlichen der Heime über das Thema «Verantwortung». Er packt das psychologisch sehr geschickt an. Diese Arbeit wird durch den OIKOS e.V. in Zusammenarbeit mit der Haiti Kinder Hilfe ermöglicht.

Zählen lernen im Waisenheim Im Waisenhaus

 

 

 

 

 

 

 

Flug nach Cap Haitien zum Waisenheim von „Notre Dame de la Médaille Miraculeuse“. Ein Mitarbeiter des Heims holt uns am Flughafen ab. Wie immer ist auch Soeur Godelieve mit zum Flughafen gekommen. Sie ist über 80 Jahre alt, aber immer zur Stelle, wo sie gebraucht wird. Als wir im Heim ankommen, empfängt uns eine Gruppe von Kindern, die uns ein Willkommenslied singen, wobei alle vor Begeisterung in die Hände klatschen. Was für ein Empfang!

Madame Leconte, die Gründerin, und Madame Étienne, die Direktorin der zum Heim gehörenden Schule, sind beruhigt und erleichtert, dass die HKH wieder Geld überweist, das durch Patenschaften zusammengekommen ist. Frank, der erste Vorsitzende des OIKOS e.V., führt ein langes Gespräch, weil dieser Verein ein pädagogisches Programm ermöglichen will, das eine Verbesserung der Erziehungsmethoden im Waisenheim zum Ziel hat. Mit im Boot für diese pädagogischen Verbesserungen ist ein französischer Verein. Als wir die Lehrer bei der Arbeit sehen, kann man bereits erhebliche Fortschritte in den Unterrichtsmethoden feststellen. Die HKH hat sich ja vorgenommen, Zusammenarbeit zwischen Institutionen zu begünstigen, die in dieselbe Richtung gehen. Mit umso mehr Freude wollen wir weiter für Patenschaften sorgen, mit denen Kindern der Besuch dieser Schule möglich wird.

Im Slum von Cap HaitienClaire hat die Idee, dass es für Deutsche gut wäre, wenn sie sehen könnten, aus welchem Milieu die Kinder kommen, die dort zur Schule gehen. Madame Étienne wählt einen Jungen aus, der den Vornamen „Peugeot“ trägt. Namen dieser Art sind in Haiti keine Ausnahme. Wir haben sogar einen Jungen kennengelernt, der „Volkswagen“ gerufen wird. Peugeot hat eine sehr arme Mutter und fünf Brüder. Wir filmen ihn im Klassenzimmer. Am nächsten Morgen führt uns Madame Étienne einen steilen Bergweg hinauf. Wir steigen zwischen einigen Häusern bergan, um hinter einer Kakteenhecke auf eine unverputzte Wand aus Hohlblocksteinen zu stoßen. Davor ist ein zwei Quadratmeter großes, in Brusthöhe auf Pfosten aufgestelltes Blechdach mit einer mit einem Seil festgebundenen Ziege und einer kleinen Feuerstelle: die „Küche“. Peugeot, der uns dort begrüßt, führt uns dann hinter die Wand und durch eine aus alten Brettern zusammengenagelte Holztür in das „Haus“ – eine Blechhütte von etwa 20 Quadratmetern. Das Dach ist löchrig. Wenn es regnet, tropft es herein. Hinter einem halb zerrissenen Vorhang ein Bett ohne Matratze. Kleider liegen verstreut darauf. Sechs Kinder samt der Mutter schlafen hier. Den Vater gibt es nicht mehr. In einem kleinen abgetrennten Nebenraum stehen einige Eimer und Fässer für eventuelle Vorräte. Die Mutter lässt sich nicht blicken. Wir begegnen einer Nachbarin, ihr Gesicht ist von Leid und Entbehrungen gezeichnet. Aber beim geringsten Anlass zur Freude verzaubert ein wunderbares Lächeln ihr Gesicht. Frank erinnert sich an die Bemerkung von Madame Étienne, dass Peugeot einige Monate im Waisenheim gelebt hat, ihn dort aber ein unüberwindbares Heimweh überfallen hat. Seitdem macht er jeden Tag den Weg vom Berg herunter in die Schule des Heims. Nichts kann die Bande zu seiner Mutter und zu seinen Brüdern ersetzen. Man darf Peugeot nicht eine unnötige Entfremdung von diesen Familienbindungen auferlegen. Als wir den Bergweg wieder hinuntersteigen, geht uns der Gedanke durch den Kopf, was es bedeuten mag, in einer derartigen Armut zu leben. Wie würden wir uns in einer solchen Situation fühlen?

Jeden Morgen fahren wir mit Soeur Godelieve zur Messe. Wir müssen mit dem dortigen Kollektiv-Taxi, dem Taptap fahren, denn der Zylinderkopf des Autos vom Waisenheim ist kaputt. 5.000 US-Dollar soll die Reparatur kosten. Eigentlich unzumutbar, dass diese alte Nonne jeden Tag mit dem Taptap fahren muss. Aber sie erträgt es mit bewundernswerter Geduld. Wir warten auf ein Taptap, in dem neben dem Fahrer noch Platz ist, damit sie nicht hinten über die hohen Stufen einsteigen muss. Wir selbst klettern hinten hinauf; da kein Sitzplatz mehr frei ist, erleben wir zum ersten Mal eine Fahrt im Stehen, wobei wir uns oben an die Dachkante anklammern müssen. Es ging gut. Zum Glück wird die Straße repariert, die zur Kirche führt. Die Schlaglöcher waren eingeebnet. Jahrelang haben die Anrainer gewartet. Immer haben die Politiker in Cap Haitien versprochen, dass die Straße bald repariert würde. Nichts. Aber jetzt: die Hauptphase des haitianischen Karneval wird in Cap Haitien stattfinden. Da muss die Straße schön sein! Jetzt wird vierundzwanzig Stunden in Schichtarbeit durchgeschuftet. Die Straße muss fertig werden und sie wird fertig werden. André, der Hausmeisterarbeiten im Waisenheim macht, hat sich mit den Straßenarbeitern arrangiert, dass Erde, die sie ausheben und abtransportieren, auf den Zufahrtsweg zum Heim geschüttet und eingeebnet wird, um die knöcheltiefen Schlaglöcher auszugleichen. Ein gutes Arrangement, das den Arbeitern Spaß macht, weil das, was sie da Gutes tun, eigentlich verboten ist und deshalb doppelten Spaß bereitet. Dem Staat ein Schnippchen zu schlagen gehört in Haiti unbedingt zu den guten Sitten.

Der neue BusZurück in Port-au-Prince fahren wir zu den Salesianern. Pater Zucchi und Frau Dr. Höfler erwarten uns schon. Es ist Pater Zucchi gelungen, einen der Container, die schon fast drei Jahre lang beim Zoll feststeckten, frei zu bekommen. In dem Container war ein Toyota-Bus. Er gehört jetzt den Salesianern, die ihn der HKH aber voll zur Verfügung stellen. Mit Pater Zucchi und dem Rechtsanwalt der HKH fahren wir zu einer Institution, die für die Freigabe des zweiten Containers, der ebenfalls schon nahezu drei Jahre nicht freigegeben wird, verantwortlich ist. Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit. Man will weitere Papiere. Aber es bestehen noch Chancen. Fast drei Jahre Kampf um diesen Container. Man lernt Geduld. Zucchi berichtet, dass er zu Weihnachten viele Schuhe und Kleider aus dem ersten Container an Menschen aus dem Slum von Cité Soleil verteilt hat. „Das hat vielen Menschen große Freude bereitet“, meint er lächelnd. Genau dafür lohnt sich die Anstrengung.

Die Stiftung Cadet hat einen anderen Container von uns bekommen. Er steht auf deren Grundstück, aber die Zahnarztpraxis, die wir mitgeschickt haben, ist noch nicht eingebaut. Wir werden mit Frau Cadet in Kontakt bleiben. Im Gegenzug werden die Kinder der HKH verbilligte Zahnbehandlungen erhalten.

Festessen in Heim

Letzter Tag. Wir haben im Mädchenheim ein Fest organisiert. Alle packen an. Alle sind da. Claire hält eine Rede. Alain Castera hält eine Rede. Herold Toussaint hält eine Rede. Mädchen und Jungs singen Frank ein Geburtstagslied. Zum ersten Mal feiert er seinen Geburtstag in Haiti. Er wird 65 Jahre jung. Alain hat Bonbontüten für alle mitgebracht. Gina hat ein gutes Essen gekocht. Danach gibt es Eis. Gute Stimmung. Die laue Tropennacht ist wunderbar.

Am nächsten Tag fliegen wir Richtung Paris. „Nur wer die nötigen Änderungen riskiert, bleibt seiner Aufgabe treu“, haben wir vor kurzem in einer christlichen Zeitschrift gelesen. Wir sind voller Hoffnung, dass die HKH in Haiti noch besser „aufgestellt“ ist (wie Managementberater sagen würden), um die Aufgaben zu bewältigen, für die sie die Verantwortung trägt.

Zum Schluss eine Bitte: Immer wieder haben wir Leute in Haiti, die Laptops brauchen. Wenn Sie welche spenden können, bitte an uns denken! Und: helfen Sie der Haiti Kinder Hilfe weiter. Danke!

 

Claire und Frank Höfer

 

 

 

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